Steirischer Herbst 21.09 bis 14.10.2012 - Die Wahrheit ist konkret

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Dieses Jahr ist alles anders. Keine Eröffnung im gewohnten Rahmen, der Ausstellungsrundgang nicht am ersten Wochenende, dafür ein einwöchiges „24/7-Marathon-Camp“ mit Programm rund um die Uhr, eine Überforderung gleich zu Beginn. Dass dieser steirische herbst ein deutlich anderer wird, ist eine Folge der rasanten weltweiten Veränderungen. Der Revolutionen in vielen arabischen Ländern, der Occupy-Bewegungen, der massiven Umbrüche und finanziellen Katastrophen in Europa, die zusammen auch die Rolle der Kunst infrage stellen. Künstler waren in diesem Rausch von Ereignissen überall und von Anfang an maßgeblich beteiligt. Aber es zeigte sich, dass die Frage, welche Rolle Kunst selbst dabei spielt, eine schwierige ist: Kann und soll es eine Kunst geben, die nicht nur beobachtet, kommentiert und dokumentiert, sondern sich ganz konkret engagiert?


Künstlerische Strategien in der Politik und politische Strategien in der Kunst


Und so macht sich der heurige herbst auf die Suche nach künstlerischen Strategien in der Politik und nach politischen Strategien in der Kunst. „Truth is concrete“ ist ein 7-Tage/24-Stunden Marathon-Camp: Rund 150 Künstlerinnen und Künstler, Aktivistinnen und Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler tragen vor, performen, spielen, produzieren, debattieren, sammeln. Tag und Nacht. Darunter die Philosophin und Demokratietheoretikerin Chantal Mouffe, Antanas Mockus, Philosoph und legendärer ehemaliger Bürgermeister von Bogotá, der mittels künstlerischer Strategien das Selbstbewusstsein einer hoch kriminalisierten Millionenstadt verändert hat, Srđa Popović, zentrale Figur der Studentenbewegung Otpor!, die den serbischen Diktator Milošević zu Fall brachte, und der heutige Direktor von Canvas, dem Centre for Applied Non Violent Actions and Strategies, der österreichische Künstler und Aktivist Oliver Ressler, der New Yorker Kult-Prediger und Aktivist Reverend Billy, Aktivisten von New York bis Moskau, von Kairo bis nach Korea und viele, viele mehr.

„Truth is concrete“ ist eine Plattform, eine Werkzeugkiste ebenso wie ein performatives Statement; eine extreme Anstrengung in einer Zeit, die extreme Anstrengungen zu erfordern scheint. Die Architekten von raumlaborberlin geben dem Ort eine flexible Gestalt, verbinden die beiden Gebäude Thalia und Opernring 7 zu einer Arbeits- und Wohnlandschaft, die genutzt werden will, die mit dem Beginn des Festivals nicht schlüsselfertig übergeben wird, sondern sich während des Marathon-Camps immer wieder verändert. Und die anschließend als Festivalzentrum mit Stolz die Narben einer Woche intensiven Lebens und Arbeitens herzeigt. Eingebettet in das Setting des Camps ist auch die diesjährige herbst-Ausstellung – oder besser: ein Labor für neue Paradigmen, Strukturen, Hierarchien, Kollaborationsformen, ein kollektiver Prozess, der lange vor der Eröffnung beginnt und mit ihr längst nicht endet: „Adaptation“. Die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik richten die Prager Ausstellungsmacher Zbyněk Baladrán und Vit Havránek nicht nur nach außen, sondern vor allem auch an das institutionelle Kunstsystem bis hin zur kuratorischen Praxis selbst.

Über die ganze Stadt verteilt, zeigen auch die Ausstellungen der Grazer Partnerinstitutionen ihre eigene Sicht auf das Verhältnis von Kunst und Politik. „Absolute Democracy“ im < rotor >, untersucht kritisch das Konzept von Demokratie, wie auch die von Michelangelo Pistoletto gegründete Arbeits- und Forschungsgemeinschaft Cittadellarte im Kunsthaus Graz künstlerische Partizipation zum Ausgangspunkt einer Untersuchung demokratisch gelebter Zivilgesellschaft nimmt. Das Forum Stadtpark, mit dem Projekt „Post“, lädt Literaten und bildende Künstler ein, den Kunstraum zu verlassen und mittels einer Agitprop-Postsendung alle Grazer Haushalte nicht nur zu erreichen, sondern auch zu mobilisieren, während die argentinischen Künstleraktivisten Iconoclasistas in der ESC im LABOR eine neue Kartografie von Graz entwickeln.

Sehr konkrete Wirklichkeiten greifen viele weitere Ausstellungsprojekte des Festivals auf: die zunehmende Normalisierung von öffentlicher Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit etwa der Grazer Kunstverein oder das autoritäre System Kirche, das im Kulturzentrum bei den Minoriten durch den steirischen Künstler Alois Neuhold hinterfragt wird. Die Akademie Graz widmet sich mit „Reclaiming Identity“ der Kultur der Roma und das Pavelhaus / Pavlova hiša in „Fallen imperials / forgotten spaces – reoccupied!“ der Staatskunst des ehemaligen Jugoslawien, die es mit aktueller politisch engagierter Kunst konfrontiert. Künstlerische Positionen, die sich jeglicher Fragestellung nach „Nützlichkeit“ entziehen und dennoch durch die von ihnen geschaffene eigene Wirklichkeit im autonomen Kunstraum politisch wirksam werden, zeigen schließlich der Medienturm Graz mit „Realness Respect“ und Camera Austria, wo man beginnend mit Anna Jermolaewa für jeweils zwei Wochen den Ausstellungsraum einzelnen Künstlern überlässt: „Art is concrete. And so is Truth?“

Die Wahrheit ist konkret

Das Leitmotiv des diesjährigen herbst zitiert Brecht, der Lenin zitiert, der Hegel zitiert: Mit ihm suchen wir nach dem Konkreten in der Kunst, nach einer Definition von Wahrheit, die zwar komplex und nicht endgültig ist, in jedem Fall aber dennoch konkretes Handeln ermöglicht. Auch über das Marathon-Camp hinaus setzen wir die Suche danach fort: „Rebranding European Muslims“ nennt die israelische Künstlergruppe Public Movement ihre internationale PR-Kampagne für eine andere europäische Kultur. Start der Kampagne, die in Graz ihren Ausgang nimmt und in andere Länder weitergetragen wird, ist eine große Benefiz-Gala: eine politische Wohltätigkeitsveranstaltung ebenso wie eine theatrale Inszenierung von Engagement und Konflikt. Das Moskauer Teatr.doc bringt auf die Bühne, was in der russischen Politik und Gesellschaft verschwiegen wird, Rabih Mroué und Lina Saneh rekonstruieren in „33 rounds and few seconds“ den Tod eines jungen Libanesen und erzählen zugleich passioniert und entlarvend von den Problemen eines Landes, in dem die arabischen Revolutionen des letzten Jahres keinen Funken geschlagen haben.

Fünf ehemalige Balletttänzerinnen und -tänzer begründen im Stück „Come Back“ der österreichischen Performerin Doris Uhlich radikal und selbstironisch ihre eigene revolutionäre Bewegung. Weitere performative Statements kommen von der New Yorkerin Young Jean Lee, die mit ihrer Kompanie einen Blick auf den Feminismus in Amerika wirft und dem legendären mexikanischen Theatermacher Gómez-Peña (La Pocha Nostra), der mit einem unverwechselbaren, eklektischen Mix aus Ritual, Performance und krassem Entertainment den Kapitalismus exorziert. Den Abschluss findet der diesjährige herbst dann mit einem Brückenschlag der ehemaligen Kulturhauptstadt Graz zur aktuellen Kulturhauptstadt Europas, Maribor: Mit 40 jungen bis jugendlichen Sängerinnen des Vocal Theatre Carmina Slovenica führt uns der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels an einem großen Abend am Ende des Festivals durch die Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens: When the mountain changed its clothing.

Auch Klänge fordern auf, Welt zu verändern und Welt verändert wahrzunehmen. Doch die Bedeutung der Welt, die Bedeutung eines Klangs kann sich verändern, ohne dass der Klang selbst sich verändert. Welche Klänge also sind heute noch Zeichen und damit Handlungsanweisung? Wofür, in welchem Kontext und unter welchen gesellschaftlichen Umständen tauchen sie auf? Das musikprotokoll 2012 führt uns die Welt als Klang vor, als Klang zwischen ikonenhaften kommerziellen Soundlogos und privaten Klingeltönen, instrumentaler Avantgarde, abstrakter Elektronik, Klangdesign und Popsongs. Und auch außerhalb des musikprotokoll finden sich einige weitere Live-Konzerte im steirischen herbst 2012 verstreut, darunter The Kominas, prominenter Teil der sogenannten Islam-Punk-Bewegung, im Anschluss an die „Rebranding European Muslims“-Benefiz-Gala. Weiter Infos unter www.steirischerherbst.at

 Quelle: www.steirischerherbst.at

19.06.2012